Malerei ist „die Kunst, deren alleiniger Bereich im Unterschied zu Baukunst und Bildnerei die Fläche ist.“[1] Etymologisch leitet sich die Bezeichnung der künstlerischen Gattung vom althochdeutschen Verb „mālōn“ ab, dessen Bedeutung unterschiedliche Aktivitäten wie „ein Zeichen machen“, „abgrenzen“, „bunt verzieren“, „färben“, „schreiben“, und „im Geist entwerfen“ umfasste.[2] Noch bevor der heute gültige Begriff einer autonomen Kunst definiert wurde, existierte die Malerei somit bereits als eine schöpferische Praxis, die sowohl den materiellen Vorgang des Farbauftrags, der Grenzen zieht, als auch die konzeptuelle Leistung der Zeichenproduktion implizierte.
Die Malerei Oliver Christmanns stößt auf den Grund dieser Konzeption vor. Christmanns Bilder leben von der Vibration farblicher Felder, die sich voneinander absetzen, aufeinanderstoßen, verschwimmen und so schließlich ein ausgewogenes Ganzes bilden. Dabei lässt der bilaterale Bildaufbau die Struktur des künstlerischen Verfahrens sichtbar werden. Denn Christmann konstruiert seine Bilder durch die kontinuierliche Wiederholung zweier widersprüchlicher Gesten. Schicht um Schicht trägt der Maler Acrylfarbe auf die Leinwand, um in einem nächsten Schritt die soeben vollendete Arbeit durch das Abkratzen noch frischer Farbschichten wieder rückgängig zu machen. Die bunten Oberflächen seiner Bilder spiegeln demgemäß die sie hervorbringende, ambivalente Dynamik von Bedecken und Aufdecken, Offenbaren und Verbergen, Schöpfen und Zerstören wider. Zugleich evozieren sie im engen Nebeneinander, der Überlagerung und Durchdringung unterschiedlichster Farbqualitäten eine Tiefenwirkung, die die Fläche des Bildträgers in den Raum öffnet.
Die lebhafte Farbigkeit seiner Gemälde ist indessen nicht die Frucht eines spontanen, rein intuitiven Farbauftrags, sondern resultiert aus einem langwierigen konstruktiven Prozess. Von der bewussten Wahl der malerischen Utensilien bis hin zur präzisen Setzung einzelner Farbakzente lässt Christmann reflektiert in übereinander gelagerten Gitter- und Tupfenstrukturen Farbräume entstehen. Wie die vielschichtigen Oberflächen der Leinwände die Geschichte ihrer Entstehung fragmentarisch aufscheinen lassen, ist auch der Malprozess von Momenten des Innehaltens skandiert, den notwendigen Trockenzeiten der einzelnen Farbschichten. Die unterschiedlichen Dichten des Farbauftrags sowie dessen jeweiliger Trockenheitsgrad vor dem nächsten Arbeitsschritt bestimmen, wie stark die verschiedenen Nuancen ineinanderfließen und sich vermischen. Hat Christmann im Verlauf seiner malerischen Praxis einen Erfahrungsschatz etabliert, der das Resultat seiner dualistischen Gesten von Farbauf- und Farbabtrag einschätzbar macht, so bleibt das Zusammenwirken der verschiedenen Farbschichten im Endergebnis jedoch zu einem gewissen Grad auch für den Künstler „einfach eine Überraschung“[3]. Diese unbezwingbare Eigengesetzlichkeit der Malerei, die sich zwar „im Geist entwerfen“[4], nicht jedoch vollkommen kontrollieren lässt, betont der Maler, indem er erst abschließend auf das durch Freilegung der verschiedenen Farbschichten entstandene Bild reagiert.
Endet der Arbeitsprozess in einem nicht zufriedenstellenden Ergebnis, wird das Gemälde verworfen, geht jedoch in den Erfahrungsschatz ein, aus dem neue Farbkonstruktionen entstehen. Christmann behält nur ausgewogene Kompositionen bei, deren Farbverläufe und Formen in einer Harmonie korrespondieren. Von diesen teilt der Maler eine besonders gelungene, ausdrucksstarke Partie mit einer geraden, zumeist vertikalen Grenzlinie ab und übermalt die übrige Bildfläche nahezu monochrom. Das nicht vollständig deckende, monochrome Farbfeld steht dem bewegten Vibrato der vielgliedrigen Farbstrukturen als ruhiger Pol gegenüber, setzt den organisch wirkenden Farbverläufen und -kontrasten eine klare Ebene gegenüber. Betont diese scheinbar antagonistisch die Tiefenwirkung des ihr entgegenstehenden, vielfarbigen Farbraums, entpuppt sie sich bei eingehender Betrachtung jedoch nicht als opake Oberfläche. Vielmehr lassen die überdeckten Schichten ein Spiel aus Schattenzonen und Lichtflecken auf dem überdeckenden Monochrom entstehen, durch das es strukturiert und in seiner farblichen Materialität hervorgehoben wird. Es birgt somit dieselben Farbschichten und -formen unter sich, die in der offenen farbigen Struktur zutage treten. Die jeweilige Dichte und Farbigkeit der monochromen Partie wählt Christmann dabei im Verlauf des Arbeitsprozesses. Diese Interdependenz der beiden Farbfelder begründet den schließlich homogenen Bildeindruck. Denn es besteht somit nicht wie der erste flüchtige Blick vermuten lassen könnte, aus zwei Opponenten, sondern fügt sich durch das dialektische Vorgehen des Malers zu einem geschlossenen Ganzen.
Im Wechselspiel von Konstruktion und Intuition gesteht Christmann dem Bild als malerischem Zeichen seine Eigenständigkeit zu. Seine Malerei dient nicht als Repräsentant einer durch sie vermittelten Botschaft, sie offenbart sich nicht leichthin dem Blick des Betrachters, sondern fordert ihn auf zu einem bewussten perzeptiven Akt, in dem sie als eigengesetzliches Gegenüber fungiert. In dieser dialogischen Situation stimulieren Christmanns Bilder das sehende Auge, schicken es auf eine Reise über vielgestaltige Farblandschaften, deren Oberflächen die vielzähligen Schichten ihrer Geschichte erahnen lassen. Nicht vorherbestimmtes Produkt einer klar kalkulierten Strategie, bewahrt Christmanns Malerei eine Freiheit, die sowohl für die Bilder gegenüber eindeutigen Zuschreibungen, als auch für ihren Schöpfer im Arbeitsprozess sowie für den Betrachter in seiner Interpretation gilt. Die sichtbaren Spuren der malenden Gesten geben die Möglichkeit für Assoziationen, erlauben eine Verständigung auf mehreren Ebenen des Malerischen: neben der reinen Wahrnehmung der Farben, ihrem Zusammenspiel und den durch das Aufeinandertreffen verschiedener Flächen entstehenden Spannungen, kann der Betrachter der Materialität der Farbpaste gewahr werden, die nicht flächig deckend, sondern pastos strukturiert Räumlichkeit in sich trägt und schließlich Bezüge zur außerbildlichen Realität ermöglicht.
In dieser Hinsicht machen Christmanns Bilder die Malerei zum Thema der Malerei.
In der Dialektik ihres Aufbaus stellen sie die Fläche als alleinigen Bereich der Malerei in Frage, überschreiten die formale Grenze der Leinwand und verweisen auf die Polyphonie des Malens als historischer, kultureller Praxis. Diese ist weder auf eine bloße Abbildfunktion zu reduzieren, noch ist sie in ihrer Abstraktion als pure Expression des Künstlers misszuverstehen. Trotz ihrer komplexen Konstruktion wendet sie sich auch nicht ausschließlich an die geistigen Fähigkeiten ihres Betrachters, sondern transportiert durch die Farbe Intensität und Körperlichkeit und bleibt offen für figurative Interpretationen. Im Zusammenklang all dieser Aspekte schenkt Christmann seiner Malerei eine unverwechselbare Existenz.
Dr. Theresa Nisters
[1] Jahn, Johannes: Malerei, in: Ders.: Wörterbuch der Kunst. Stuttgart: Alfred Körner Verlag, 1950, S. 305-306, S. 305.
[2] Vgl. Stichwort „malen“, in: Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der Deutschen Sprache. 24., durchges. und erw. Aufl., bearb. von Elmar Seebold, Berlin/New York: De Gruyter 2002, S. 593.
[3] Christmann, Oliver: Gedanken zur Entstehung meiner Arbeit, 2017.
[4] Vgl. Anm. 2.
Farbe Improvisation Reflexion
Zu einem Dreiklang in der Malerei von Oliver Christmann
„Die Anfänge der Malerei“, schreibt Gottfried Böhm, „darf man in einem uralten Verwandlungsritual vermuten. Bevor die Malerei ein hochdifferenziertes Handwerk wurde, über Theorien und Regeln verfügte, war sie eine einfache Praxis, ein Ritual“. (1) Mit besonderen Stoffen aus der Natur wie Erde, Lehm, Kreide und Pflanzensaft wurden Gesichter und Waffen bemalt und dadurch der Bedeutungswert verändert. Die Malerei kam schließlich zu sich selbst, als sie sich - nach Entdeckung der Ausdruckskraft von Naturstoffen - auch die Verwandlungsfähigkeit der leeren Fläche, einer Felswand beispielsweise, zu Eigen machte. Durch Materie war es nun möglich, etwas Erscheinen zu lassen, etwas Lebendiges zu erzeugen, das nicht vergeht sondern seine Suggestivität behält. Seit alters her wird daher dem Bild die besondere Bedeutung des Lebendigen zugebilligt.
Oliver Christmann agiert auf dieser gedanklichen Basis der Verwandlung von Materie in ein naturhaft und vital erscheinendes Bild, erzeugt durch das Zusammenwirken von Farbe und Bildfläche. Die „verkörperte“ Farbe und damit die Energie des Lebendigen treten in seinen Bildern raumgestaltend hervor.
Farbe sehen
Es ist die Frage nach dem Wesen der Malerei, eine Frage, welche die Geschichte der Moderne in unterschiedlichen Ansätzen und Formulierungen beschäftigt und die Oliver Christmann immer wieder aufgreift. Dabei richtet er sein Augenmerk auf die bildnerischen Elemente der Malerei, auf Farbe, Form, Struktur und Rhythmus. In unmittelbarer Auseinandersetzung mit diesen Bildmitteln, also ohne vorherige einschränkende Planung und ohne direkte, nachahmende Bezüge zur sichtbaren Realität, malt er Bilder, denen der Verlauf des Herstellungsprozesses als sichtbare Arbeitsspur eingeschrieben ist. Im Vordergrund steht die leidenschaftliche Aktivität des Malens und in diesem Zusammenhang die Auseinandersetzung mit der Materialität und Sensualität von Farbe.
„Ich weiß, dass Farbe Element ist und somit Teil der Natur. Farbe stimuliert den Menschen, mit dieser Befähigung ist sie in machtvoller Funktion“, notiert der „Farbmagier“ Rupprecht Geiger und spricht wiederholt vom „Farberlebnis“ und „Farbe sehen“. (2) Farbe, neben Wasser, Erde, Feuer und Erde als ein Element zu begreifen, betont die fast naturhaft wichtige Bedeutung von Farbe, auch im Verständnis von Oliver Christmann. Farbe stellt für ihn ein Lebenselixier dar, körperlich und geistig herausfordernd und anregend. Wie eine lebendige Materie bewegt und verändert sich die Farbmasse, so als sei sie dem natürlichen „Werden“ unterworfen. Sie taucht in einen abstrakten Nebelschleier ab und in neuer Gestalt wieder auf.
Schritt für Schritt fügt Oliver Christmann Farbschichten auf die Leinwand, schabt den noch frischen Farbauftrag teilweise wieder ab. Darunter liegende Schichten werden bloßgelegt und vermischen sich mit der neu aufgetragenen Farbe. Wichtig für diesen, die überlagernden Farbbahnen sichtbar lassenden Arbeitsprozess ist, dass Farbe in ihrer Substanz haptisch und körperhaft erlebbar bleibt. „Ausgangspunkt meiner Arbeit ist der unmittelbare sinnliche Reiz der Farbsubstanz, der Reiz des Farbtons in Verbindung mit der saftigen Materialität der Malfarbe“, notiert Oliver Christmann. (3)
Immer wieder hinterlässt die subjektive „Handschrift“ des Malers Spuren in der Farbmasse, erkennbar an der frei gewordenen Expressivität und Geschwindigkeit, mit der Farbschichten aufgerissen und dann in einer darüber jagenden Bewegungsgeste mit dem Spachtel gleichsam aktiviert werden. Es entstehen Risse, Ausbrüche, Flecken und Schlieren. Bildkonstruktionen „wachsen“, öffnen sich langsam, oder aber Farbbahnen versperren den Blick in verborgene Regionen, lassen allenfalls Durchblicke ahnen. Die auf diese Weise sowohl von der Empfindung und der Intuition des Künstlers als auch vom Zufall gelenkten, manchmal auch rational geplanten Modulationen der Bildfläche schaffen zusammen mit dem aus den Farbakkorden auftauchenden Licht eine besondere atmosphärische Tiefe. Der entstandene Farbraum wird zum Leuchten gebracht.
Farbe lässt sich in diesem ausdifferenzierten Bildgefüge als Emanation des Lichtes begreifen. So ist es die, sich gleichmäßig über das ganze Bild ausbreitende Lichtintensität der Farbe, die Oliver Christmanns Malerei in sinnlich-geistige Erfahrungsräume verwandelt. Oder sollte man von „Weltlebenbildern“ sprechen, ein Begriff, den die Deutsche Romantik erfand? Damit verbunden ist die Vorstellung von einem Maler, der universalen Ordnungen nachsinnt und ein bildliches Äquivalent für sein Verhältnis zum Universum und seine Vorstellung von Raum und Zeit, Energie und Materie formuliert.
Ausgleich von Improvisation und Reflexion
Gegensätze beherrschen unsere abendländische Denktradition, z. B. der Gegensatz von Rationalität und Emotionalität, Körper und Geist, Bewusstem und Unbewusstem. Oliver Christmann betrachtet diese Grundprinzipien jedoch als sich ergänzende Erkenntnisformen und blendet weder die eine noch die andere Seite aus. Viel eher strebt er nach einer Einheit. In seinen Arbeiten ist die Bildfläche zwar durch zwei unterschiedliche Farbfelder eindeutig gegliedert, wodurch sich Spannungen aufbauen, doch der Malprozess führt zu harmonischen Verhältnissen im Bildganzen. So steht der klar durchdachte Bildaufbau für ein reflektiertes Vorgehen, während Farbsubstanz, Räumlichkeit und Atmosphäre einen Bezug zur Körperlichkeit und Gefühlswelt des Künstlers herstellen.
Zum Beispiel das Gemälde „D2, o.T.“ von 2012: Die Komplementärfarben Rot und Grün treffen aufeinander. Zwei unterschiedlich dichte und unterschiedlich tiefe Farbflächen treten in eine Wechselbeziehung, steigern und ergänzen sich in ihrem Kontrast. Unten liegende Farbschichten lassen ahnen, dass es eine gemeinsame Grundlage gibt. Man könnte auch von einer „durchwandernden“ Struktur sprechen. Während die linke rote Farbfläche mit den partiell immer wieder aufscheinenden grün-blauen Farbflecken eine ruhige, dichte Farbpräsenz verkörpert, gerät die rechte Farbfläche in einen dynamisch die Senkrechte betonenden Bewegungsfluss.
Drängt das Rot, aus der Tiefe kommend, immer weiter an die Oberfläche oder sind es die grünen gitterartigen Verläufe, die sich immer weiter ausbreiten wollen? Es sind vielmehr Verdichtungs- und Auflösungsprozesse, die sich in Balance halten. Zurückweichen und Vordrängen, Ruhe und Bewegung, Öffnen und Verdecken beherrschen als stimmiges Zusammenspiel von Farben und Formen das Bild, machen Bildräumlichkeit erfahrbar. Dabei richtet Oliver Christmanns auch seinen Blick auf die Dualität von Ordnung und Chaos. „Im besten Fall“, so der Künstler, „ist auch noch die Verschränkung von geplantem und ungeplantem Vorgehen spürbar“. (4) Bewusste wie auch unbewusste Reaktionen und Gegenreaktionen, Auseinandersetzung, Reibung, Bewegung, Veränderung – mit diesen Begriffen lässt sich sein Malprozess beschreiben.
Oliver Christmanns Arbeiten sprechen die Sensibilität des Betrachters an: Den Eigenwert der Farbe bewusst sehen, die sinnliche Schönheit der Farbe empfinden, den Farbklang hören, die intensiven Lebensenergien spüren, die Bildräumlichkeit als Weite wahrnehmen. Spontan stellen sich beim Betrachten Assoziationen und Gefühle, Stimmungen und Reflexionen ein, die von der Verwandlung der Bildfläche in einen lichterfüllten, ereignisreichen Farbraum hervorgerufen werden und auf subjektiven Erfahrungen, Landschaftserinnerungen und Seherlebnissen in der Natur beruhen. Oliver Christmanns malerische Bildräume erinnern an schillernde Wasseroberflächen, an Nebelschleier oder fließendes Wasser. Vielleicht spürt man den Geschmack des Meeres, das Licht mediterraner Landschaften, die Kälte des Windes, den Geruch einer frisch gemähten Wiese. Wie durch ein Fenster schaut der Betrachter in eine geheimnisvolle und vielschichtige Welt, die von einem harmonischen Dreiklang aus Farbe, Improvisation und Reflexion erfüllt ist.
Heiderose Langer
Anmerkungen
1) Gottfried Boehm, Die Sonne hinter der Leinwand,
in: Ausstellungskatalog Gotthard Graubner – Malerei,
Saarland Museum, Saarbrücken 1995, S. 15
2) Rupprecht Geiger, zit. in: Künstler,
Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst, München 1988, S. 3
3) Oliver Christmann in einem Text vom Dezember 2008
4) Oliver Christmann in einem Text vom Dezember 2008
Wir- die Betrachter
Oliver Christmann ist Maler.
Und als Maler übt er eine körperliche Tätigkeit aus.
Diese Aussage scheint selbstverständlich und ist eigentlich nichts Ungewöhnliches.
Dennoch ist sie folgenreich; folgenreich ist sie deshalb, weil sie vor allen Dingen die Malkunst betrifft. Denn die Malerei ist diejenige Kunst, die ausschließlich mit der Farbe und mit dem Licht gestaltet. Nur das Licht und die Farbe vermitteln uns das, was wir auf der Leinwand oder dem Papier sehen.
In diesem Zusammenhang müssen wir uns ins Gedächtnis rufen, dass jeder menschliche Körper nicht nur Träger einer Vielzahl von Funktionen ist, sondern sich in einem besonderen Maße durch die Fähigkeit auszeichnet, Wahrnehmung und Bewegung zu verbinden. Beide Funktionen ermöglichen dem Menschen, die ihn umgebene Welt zu sehen und sich darin zu orientieren. Dem Sehen kommt dabei eine ebenso große Bedeutung zu wie der Bewegung des Körpers.
Denn was wäre das Sehen ohne die Bewegung der Augen? Mit meinen Augen hole ich in mein Blickfeld dasjenige, was ich betrachte. Das aber, was ich betrachte, wirkt im Akt des Sehens unmittelbar. Sehen ist deshalb kein rationaler Akt der schrittweisen Aneignung von der äußeren Welt, sondern eine Unmittelbarkeit der Wahrnehmung von Phänomenen. Etwas zu Sehen setzt das Licht und, wesentlich damit verbunden, die Farben voraus. Farben sind reine Sehdinge; sie sind etwas, was man nicht greifen kann und als solche auch nichts Greifbares darstellen. Sie sind Dinge, die primär nur das zeigen, was sie sind,
nämlich Farben.
Der Malakt
Es ist deshalb nur folgerichtig, dass ein Maler wie Oliver Christmann, dessen Kunst so sehr mit dem Sehen und Ihrer Sichtbarkeit verbunden ist, sich mit der Farbe und ihrer vielfältigen Erscheinung auseinandersetzt.
Und dieses tut er, um es vorweg zu nehmen, in hervorragender Weise.
Der Ausgangspunkt jedes Werkes ist die sinnliche Wirkung und die Konsistenz des Materials „Farbe“. Ohne Vorstudien oder Entwürfe trägt Oliver Christmann zunächst eine dünne Farbschicht in Flächen oder Bahnen auf die Leinwand. Danach folgen weitere Farbschichten, die sich überlagern, zufällig mischen oder nebeneinander bestehen.
Nach und nach entsteht auf diese Weise ein Beziehungsgeflecht von Farbbahnen, die einen diffusen Farbraum ausbilden. Sind bestimmte Bereiche dieses Farbraums zu farbig oder zu bewegt, werden sie durch das Abkratzen von Farbe beruhigt, oder, im umgekehrten Fall, durch das Auftragen von Farbe lebendiger, und damit offener gestaltet. Dieser Wechsel des Abnehmens und Zugebens geschieht im Idealfall bei noch nicht getrockneter Farbe. Abhängig von der Größe des Bildes kann sich dieser
Prozess aber auch über mehrere Tage, manchmal über Wochen erstrecken. Im Laufe der Zeit entstehen auf diese Weise eine Fülle von farblich angelegten Struk-turen, deren Farben sich aufeinander beziehen.
Oliver Christmann arbeitet ausschließlich mit Spachteln unterschiedlicher Größe, da die Verwendung des Spachtel den Flächencharakter des Auftrags betont. Spachteln sind sehr gut geeignet, eine Farbfläche auf der Leinwand zu erzeugen, die die Eigenschaft der Farbe selbst hervorhebt.
Dabei hinterlässt der Maler immer wieder Spuren unterschiedlicher Emotionalität. So gib es Farbschichten, die mit großer Geschwindigkeit aufgerissen worden sind, während an anderen Stellen die Farbe in einer schnell ausgeführten Bewegungs-geste mit dem Spachtel wieder verwischt, gleichsam deaktiviert worden ist
Das Bild
Im Dialog mit dem Bild erzeugt Oliver Christmann Bildkonstellationen, deren Flächen sich öffnen, oder Farbstreifen, die den Blick in die Tiefe versperren und allenfalls Durchblicke erahnen lassen.
Es entstehen Farbräume mit sensibel eingefügten Farbvariationen, die sich wie Farb-schleier übereinanderlegen können oder es sind großflächig angelegte malerische Strukturen zu sehen, die wie Schriftzeichen über die Fläche wandern.
Auch gibt es transparente Flächen, die darunterliegende Schichten wie durch farbiges Glas scheinen lassen oder auch Einzelstrukturen, die sich zusammen-schließen und als eine Überstruktur wahrgenommen werden.
Oliver Christmanns Arbeiten geraten so zu höchst komplexen Farbräumen sich über-lagernder oder zusammenfallender Strukturen, deren Beziehung durch das Verhältnis der Farben zueinander bestimmt wird.
Auffällig ist, dass zwei Farbflächen unterschiedlicher Größe und Durchdringung den ersten Bildeindruck vermitteln. Stets sind die Farben der sich durchdringenden Flächen so gewählt, dass sie in einem komplementären Kontrastverhältnis, z.B. Rot/Grün zueinander stehen.
Auf diese Weise stoßen sich die beiden Flächen nicht ab, sondern werden für das Auge in eine Harmonie gebunden und aufeinander bezogen. Die so miteinander verbundenen Farbflächen sind der Ausgangspunkt eines Farbraums vielfältiger, zueinander und auseinander spielender Bewegungsimpulse, deren farbliche Rhythmen und Akkorde sowohl zueinander als auch in eine Beziehung zu dem ganzen Bild gebunden sind.
Zurück zum Betrachter
Durch die Beziehung der Farben und die vielfältige Flächenstruktur des Farbauftrags entstehen Bildräume, in denen Dimensionen wie vorne und hinten, sowie oben und unten zwar erkannt werden, in denen aber das Räumliche selbst offen und unbestimmt bleibt.
Anders, als im Fall einer auf einen zentralen Punkt oder auf eine Achse ausgerich-teten Bildperspektive wird der Eindruck der Tiefe in den Bildern Oliver Christmanns rein durch die Verwendung der farbigen Flächen und durch die Nah- und Fernwerte der Farbe selbst hergestellt.
Deshalb entziehen sich Oliver Christmanns Farbbildräume jeder sicheren Verein-nahmung und Bewältigung durch den Betrachter.
Aus diesem Grund ist es möglich, dass ein Betrachter angesichts dieser Farbräume die Gewissheit seines eigenen Standorts verliert und im Verlust dieser Gewissheit aus allen Mechanismen rationaler Orientierung ausgeschlossen wird.
Dort, außerhalb aller rationalen Konvention ist er gleichsam schutzlos ganz auf sich, auf sein eigenes Selbst verwiesen. Im Stand des schutzlosen Verwiesenseins auf sich konzentriert sich der Blick des Betrachter auf das zu Sehende, was ihn selbst wiederum seines Sehens versichert. Im Sehen der lichtdurchfluteten Farbräume Oliver Christmanns gewinnt er unmittelbar seinen Halt zurück.
Es liegt an der Fähigkeit des menschlichen Auges Farben und Farbensembles als eine Bewegtheit wahrzunehmen, in der sich eine Welt wahrnehmbar Farbvitalität, die das Auge stimuliert, eröffnen kann.
So bewirkt Rot in unmittelbarer Nachbarschaft zu Gelb eine Disharmonie, die eine schnelle Bewegtheit des Auges zur Folge hat, während Grün zu Rot eine harmo-nische und deshalb langsamere Bewegtheit des Auges vermittelt. Harmonische und disharmonische Bildpartien können nun ihrerseits wieder durch andere, neu hinzutretende Farben gestört, beschleunigt, entstört oder verlangsamt werden. Auf diese Weise entstehen Farbklänge, Strukturen und Brüche, die die Bewegung des Auges anregen, und als ein aktives Sehen, alsein bewusstes sehendes Sehen wahrgenommen werden.
Ein solches Sehen impliziert, eine Haltung einzunehmen, in der man das Unbe-kannte, das Verschwommene, das Stumme, das Verborgene und das „Dahinter“ bewusst in die eigene Wahrnehmung treten lässt.
Sich dem Wahrnehmbaren durch das reine Sehen hinzuwenden, heißt aber auch, das Gesehene selbst zur Sichtbarkeit bringen und auf das, was man sieht, einzulassen und ihm mit Staunen zu begegnen.
Das Staunen war aber schon in der Antike eine philosophische Tugend, eine Art
„Vorschule“ des Sehens. Denn Staunen hält unsere Sinne und unseren Sinn für das Werden der Dinge wach. Es öffnet unseren Blick stets erneut für das, was wir in unserer alltäglichen Welt doch ständig zu vergessen geneigt sind.
(Denn haben wir haben uns nicht an ein Handeln gewöhnt, uns die Dinge wie in einem
"spectaculum mundi", in einem großen Welttheater, vorzustellen und mehr und mehr durch die
technischen Medien unserer Zeit vor uns stellen zu lassen.)
Aus diesem Grund möchte ich Sie am Ende meines Vortrags auffordern, Ihren
Blick durch die Ausstellung streifen zu lassen und den Farbräumen Oliver
Christmanns mit Staunen und offenen Augen zu begegnen.
Denn die Bilder werden es Ihnen danken.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Udo Brüssow, Emsdetten, den 18. Juli 2010